(Dieser Text erschien im Sommer 2017 in der konkret.)
Spätestens seit Donald Trump beim G7-Treffen im Mai die drei Säulen der westlichen Wertegemeinschaft in Frage stellte – Nato, Freihandel und Klimaheuchelei -, stand in Deutschland fest: Nur die „Weltkanzlerin Merkel“ kann die freie Welt noch gegen den US-Chauvinismus verteidigen. Als die Bundeskanzlerin kurz darauf in einer Bierzeltrede davon sprach, Europa müsse sein Schicksal jetzt selbst in die Hand nehmen, war das zwar bewusst ambivalent formuliert, doch bei den Medien kam die Botschaft an: Das transatlantische Bündnis drohe, an den chauvinistischen, selbstsüchtigen USA zu zerbrechen, und die Fackel des „leader of the free world“ übernehme nun Deutschland.
Beim G20-Gipfel in Hamburg sollte die neue deutsche Rolle in Szene gesetzt werden. Vor dem Gipfel hatte man auch tatsächlich beobachten können, wie Merkel eine Front für den Freihandel zu organisieren versuchte. Sie besuchte zahlreiche G20-Mitglieder, vereinbarte mit Japan ein neues Handelsabkommen und stimmte sich mit China ab. Doch beim Gipfel selbst gab sich Trump handzahm. Die Kollision blieb aus, man einigte sich auf Kompromissformeln, vertagte die ernsten Konflikte – um Stahltarife etwa – und blieb insgesamt hübsch ambivalent.
Das Ergebnis allerdings ist aus amerikanischer Sicht gleich doppelt fatal: Der ideele Führungsanspruch der USA ist beschädigt, ohne die dadurch entstehenden Kosten zu senken. Für die Verteidigung Europas plant das Pentagon, 2018 nicht weniger, sondern 1,4 Milliarden Dollar mehr auszugeben.
In anderen transatlantischen Konflikten sieht es für die USA nicht besser aus. Zum Beispiel bei den Russland-Sanktionen, die der US-Senat im Juni beschloss und die laut Außenminister Gabriel „eine völlig neue und sehr negative Qualität in die europäischen Beziehungen bringen.“ Das Gesetz (das noch im Unterhaus feststeckt) soll zum einen Trump an den bisherigen Konfrontationskurs gegen Russland binden – zum zweiten aber zielt es darauf ab, die zunehmende wirtschaftliche Annäherung Deutschlands an Russland zu konterkarieren. Es richtet sich explizit gegen das deutsch-russische Nordstream-II-Pipeline-Projekt, mit dem demnächst durch die Ostsee weiteres russisches Gas direkt nach Deutschland geliefert werden soll. Der deutsche Außenminister reagierte denn auch mit einer Vehemenz, die nur ein Sozialdemokrat aufbringt, der die Russland-Geschäfte deutscher Konzerne verteidigt. „Europas Energieversorgung,“ so Gabriel, „ist eine Angelegenheit Europas, und nicht der Vereinigten Staaten von Amerika.“
Die deutsche Regierung argumentiert, das Gesetz sei ein illegitimer Versuch, Marktanteile für amerikanisches Erdgas in Europa zu sichern. Ganz unrecht hat sie damit nicht. Die USA brauchen Absatzmärkte für ihre immer größeren Überschüsse an Flüssiggas, während Europa von dem globalen Überangebot und der amerikanisch-russischen Konkurrenz profitiert. Inzwischen beliefern die USA unter anderem Polen direkt mit Flüssiggas.
Für deutsche Konzerne wird Nordstream-II ein prima Geschäft, denn sie werden dadurch ihre Position als Hauptverteiler russischen Erdgases in Europa festigen können. Nicht nur die USA, sondern auch viele osteuropäische Länder lehnen das Projekt deshalb ab. Vor allem Polen und die Ukraine fürchten den Verlust der Transitgebühren, die sie zur Zeit noch kassieren. Sie argumentieren aber auch, dass der Einfluss Russlands durch das Projekt bedrohlich zunehmen werde, da Russland künftig Osteuropa von Gaslierferungen abschneiden könne, ohne gleichzeitig auch den westeuropäischen Markt zu verlieren. Besonders für die Ukraine ist das ein bedrohliches Szenario.
Mit Nordstream-II erkauft sich Deutschland also lukrative Autonomie auf Kosten der europäischen Koalition gegen Russland – und es ist Amerika, nicht Deutschland, das versucht, das westliche Bündnis zusammenzuhalten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Russland für die US-Wirtschaft kaum eine Rolle spielt, für Deutschland aber sehr wohl. Die deutschen Exporte nach Russland steigen wieder rasant, im ersten Quartal 2017 um fast ein Drittel. Auch deutsche Investitionen nehmen wieder zu. Im Juni etwa beschloss Daimler, für 250 Millionen Euro eine neue Fabrik in Russland zu bauen.
Bei dem ganzen Gezerre übersieht man leicht, dass weder die USA noch Deutschland ihre Russland-Politik bisher substantiell geändert haben. Zwar verstanden sich Trump und Putin bei ihrem Treffen in Hamburg offenbar blendend, und die in Syrien angekündigte „Waffenruhe“ bedeutet vielleicht wirklich eine Wende im neuen Kalten Krieg. Doch bislang gibt es kein Anzeichen dafür, dass die Sanktionen gegen Russland gelockert werden sollen. Die USA sind genauso wie Deutschland nach wie vor an gemeinsamen Nato-Großmanövern vor der russischen Grenze beteiligt. Trumps implizite Drohung, den militärischen Schutz für Nato-Mitglieder aufzukündigen, war bislang nur leeres Gerede.
Es wäre durchaus im Interesse der USA, würde Trump eine größere militärische Autonomie provozieren. Schon Obama hatte die Nato-Partner aufgefordert, in Verteidigungsfragen eigenständiger zu werden und den USA so den strategischen „Schwenk nach Asien“ zu ermöglichen. 2014 beschlossen deshalb alle Nato-Mitglieder, ihre Rüstungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Wohl auch ohne Trump wären Deutschlands Militärausgaben in diesem Jahr um acht Prozent auf 37 Milliarden gestiegen.
Deutschland ist dabei, seine militärische Macht zu erweitern. So wurde Anfang des Jahres eine Brigade der tschechischen und der rumänischen Armee in die Bundeswehr integriert, wie es in den Jahren zuvor schon mit Teilen der niederländischen Armee geschehen war. Auf diese Weise vergrößert die Bundeswehr ihren Einfluss innerhalb der Nato. Langfristig könnte eine europäische Armee unter deutscher Führung entstehen.
Ob während der Balkan-Kriege, der Krise in der Ukraine 2014 und besonders im Kontext des Irak-Krieges: Dass die Zeit für die militärische Autonomie der EU gekommen sei, wurde schon sehr oft behauptet. Vor allem die SPD hat sich immer für eine europäische Armee eingesetzt und auch durchgesetzt, dass dieses Ziel im Koalitionsvertrag steht und zur offiziellen Politik der Bundesregierung wurde. Lange ist nichts passiert. Doch mit dem Wahlsieg Emmanuel Macrons nimmt die Entwicklung wieder Fahrt auf.
Die EU-Kommission skizzierte im Juni eine Agenda für die militärische Integration der EU, die im optimistischsten Szenario schon 2025 eine europäische Armee vorsieht. Auf einem EU-Gipfel kurz darauf wurden erste Maßnahmen beschlossen. Unter dem Stichwort „Ständige strategische Zusammenarbeit“ sollen bald Militäreinsätze unter europäischer Führung möglich sein. Außerdem wird ein gemeinsamer europäischer Rüstungsfonds eingerichtet, um ab 2012 jährlich 1,5 Milliarden Euro für Rüstungsforschung und -entwicklung zur Verfügung zu stellen. Damit soll auch die Integration der europäischen Rüstungsindustrie befördert werden. Denn ihre Fragmentierung wie niedrige Militärausgaben wirken sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie aus. Als erster Schritt, von Merkel und Macron Mitte Juli bekräftigt, gilt ein gemeinsamer europäischer Kampfjet, der mit dem neuen amerikanischen F-35 konkurrieren können und in Deutschland, Frankreich und Spanien gebaut werden soll.
Frankreich und Deutschland sollen zum „Motor einer europäischen Verteidigungsunion“ werden, sagte Verteidigungsministerin von der Leyen. Ziel der gesamteuropäischen Aufrüstung ist die „strategische Autonomie.“ Dieser Begriff tauchte zuerst im Juni 2016 – lange, bevor Trump Präsident wurde – in einem Dokument des EU-Außendienstes auf. Damals wie heute betont(e) die EU, dass es nicht darum gehe, die Nato zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen. Und bei allen Großmachtsphantasien, die seit Trump in Europa kursieren: Vermutlich ist das genauso gemeint, wie es gesagt wird.
Zum Beispiel in der Frage der Nuklearabschreckung – angesichts der beschleunigten Nuklearaufrüstung Russlands kein triviales Problemfeld: Sich in diesem Bereich von den USA zu emanzipieren, wäre mit fast unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden. So argumentierte der Rüstungsexperte Oliver Thräner in einer Analyse für das Schweizer Center for Security Studies: Frankreich wäre allein nicht in der Lage entsprechende Kapazitäten zu entwickeln; fraglich wäre ebenso, ob Deutschland eine solche Abhängigkeit überhaupt akzeptieren würde. Gleichzeitig ist eine nukleare Aufrüstung für Deutschland praktisch ausgeschlossen, so sehr dieser Wunsch in deutschen Medien auch immer wieder geäußert wird. Ein deutscher Austritt aus dem Nuklearwaffensperrvertrag hätte unvorhersehbare internationale Folgen, auch wäre er der deutschen Bevölkerung nur schwer zu verkaufen. So bliebe nur eine Art europäischer Lösung außerhalb der Nato – was das Militärbündnis endgültig obsolet machen würde. Ohne Hilfe der USA wäre eine europäische Nuklearaufrüstung aber vor allem eins: unfassbar teuer, im politischen wie finanziellen Sinne. Das lohnt sich einfach nicht.
„Strategische Autonomie“ meint daher kaum völlige Unabhängigkeit. Vielmehr wünscht man sich eine deutsche und europäische Militärmacht, die man wirklich benutzen kann – auch unabhängig von den USA. So klagte die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik aus Anlass des Libyen-Krieges 2011, dass „etwa 90 Prozent der Militäroperationen in Libyen ohne Washingtons Hilfe nicht möglich gewesen wären.“ Das soll sich ändern.
Die deutsche Regierung spricht schon seit Jahren von einer Ausweitung ihres außenpolitischen Einflusses, die auch militärische Macht einschließen soll. Um diesem Ziel näherzukommen, ergreift man jede Chance für ein entsprechendes „Agenda-Setting.“ Eine bessere Gelegenheit als einen chauvinistischen US-Präsidenten hätte man dafür nicht finden können. Das deutsch-europäische Projekt der „strategischen Autonomie“ lässt sich da als Garant der liberalen Weltordnung verkaufen. Auch der EU-Präsident Jean-Claude Juncker sprach am 9. Juni noch mal davon, die USA seien „nicht mehr daran interessiert, Europas Sicherheit zu garantieren“ – nicht weil er das wirklich glaubt, sondern weil er schon lange eine europäische Armee fordert.
Europäische Integration ist für Deutschland dabei ein notwendiges Mittel zum Zweck. Wie deutsches Dominanzstreben mit den Zwängen zur Kooperation zusammenpasst, lässt sich zur Zeit in Afrika beobachten. Obwohl es schon 2007 europäische Einsatztruppen gibt, musste Frankreich seine bisherigen Interventionen in Afrika allein absolvieren: Deutschland wollte keine Ressourcen dafür aufwenden, Frankreichs Einfluss in den ehemaligen Kolonien zu sichern. Nun zwingt die sogenannte Flüchtlingskrise zu mehr Kooperation. In der Woche vor dem G20-Gipfel trafen sich die Innenminister von Frankreich, Italien und Deutschland und beschlossen unter anderem, „konkrete Maßnahmen“ zum Schutz der libyschen Südgrenze. Dort, in Nordniger und der weiteren Sahelzone, unterhält Frankreich Militärbasen. Bald könnten europäische Truppen südlich der Sahara gemeinsam Grenzschutz betreiben.
In der eigenen Peripherie autonom Krieg führen zu können – das ist das erklärte Ziel Europas. Das transatlantische Bündnis ist damit nicht obsolet, denn noch profitieren beide Seiten. Langfristige Verschiebungen im Zuge von Chinas eurasischem Projekt sind eine Sache von Jahrzehnten – und werden nicht durch einen einzelnen Vollpfosten im Weißen Haus entschieden.