(Dieser Text erschien in der Mai-Ausgabe 2018 der konkret.)
1782, als der verarmte Schuldner Samuel Slater eine Ausbildung in einer britischen Textilfabrik begann, war die englische Industrie weltweit ohne Konkurrenz. Die USA waren ein bloßer Rohstoffexporteur und konnten mit der englischen Produktion nicht annähernd mithalten. Damit dies so blieb, verbot England seinen Textilarbeitern unter Androhung einer Gefängnisstrafe, in die USA zu reisen. Amerikanische Industrielle wiederum boten hohe Summen für englisches Technologie-Know-how und Maschinenpläne. Um britische Patente scherte man sich in Amerika nicht, das US-Handelsministerium schickte sogar Agenten nach England, um die dortige Industrie auszuspionieren.
Slater stieg rasch ins Management der Textilfirma auf und übernahm die Verantwortung für die Konstruktion neuer Fabriken. Doch in England sah er als besitzloser Angestellter keine Zukunft. Er antwortete auf die Annonce eines amerikanischen Geschäftsmannes und wanderte nach Massachusetts aus. Mit dem Geld des Amerikaners und Slaters Fachwissen errichteten sie dort das erste industrielle Imperium der neuen Welt. In England kennt man den Auswanderer bis heute als „Slater the traitor“ – Slate, der Verräter. Für den amerikanischen Präsidenten Andrew Jackson jedoch war er der „Gründungsvater der amerikanischen industriellen Revolution.“
Auf Patentrechte und geistiges Eigentum gaben die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit genausowenig wie auf den Freihandel. Der erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, entwickelte ein protektionistisches Programm, das die heimischen „Industrien im Kleinkindstadium“ schützen sollte, bis sie sich auf dem Weltmarkt behaupten konnten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als die USA zur größten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen waren, schützten sie ihre Industrie durch Zölle von bis zu 45 Prozent.
Zur selben Zeit verfolgten die USA in Asien eine Politik des Freihandels. Europäische Mächte, besonders England, hatten eine Reihe von Kriegen gegen China geführt, um das Land zu zwingen, seine Märkte für europäische Produkte zu öffnen. Dabei ging es vor allem um Opium, das England in Indien herstellen ließ und in China verkaufen wollte. Der Wettlauf um chinesische Kolonien war längst im Gange, als die USA in den 1890er Jahren mit der Eroberung der spanischen Kolonie der Philippinen endgültig nach Asien vordrangen. Als Kompromiss (und weil sie militärisch noch nicht mit den Europäern mithalten konnten), schlug Amerika eine „Politik der offenen Tür“ vor: China war open for business, und zwar für alle Beteiligten gleichermaßen.
Die USA verstanden ihre Aktivitäten in Asien stets auch als eine mit christlichen Phrasen gerechtfertigte zivilisatorische Mission. Die Chinesen hatten bei all dem nichts zu melden. An diese Zeit, in der China ein bloßer Spielball westlicher Mächte war – 1901 schlugen die westlichen Mächte den Boxeraufstand nieder und besetzten anschließend die Hauptstadt, wo sie chinesische Regierungsbeamte hinrichten ließen-, erinnert man sich in China als „Jahrhundert der Demütigung“, das erst mit 1949 mit dem Sieg Mao Zedongs ein Ende fand.
Heute steht China kurz davor, die USA als führende Wirtschaftsmacht abzulösen – und ein wütender US-Präsident schäumt über die unfairen Chinesen, die „unsere Technologien und unsere Jobs klauen.“ So schnell kann es gehen.
***
Ein Jahr lang sah es so aus, als sei Trumps protektionistisches Wirtschaftsprogramm vor allem Wahlkampfrhetorik gewesen – bis Anfang März, als Trump erklärte, „Handelskriege sind gut und einfach zu gewinnen,“ und den Worten Taten folgen ließ: mit Einfuhrzöllen auf Stahl und Aluminium. Die amerikanischen Wirtschaftsverbände reagierten entsetzt, die Börsenkurse brachen ein, sogar die Republikanische Partei traute sich zu widersprechen.
Tatsächlich folgt Trumps Zollpolitik keiner erkennbaren ökonomischen Logik: Die wenigen verbliebenen Jobs in der amerikanischen Stahlindustrie stehen in keinem Verhältnis zu den Arbeitsplätzen, die in der stahl- und aluminiumverarbeitenden Industrie verlorengehen könnten. Schon George W. Bush hatte 2002 Zölle auf Stahl von bis zu 30 Prozent eingeführt – und sie kurz darauf wieder aufgehoben, weil sie der Stahlindustrie kaum geholfen, aber der Wirtschaft insgesamt geschadet hatten.
Das Beispiel Bush zeigt auch: Trumps Zollpolitik ist kein präzedenzloses Sakrileg an der „regelbasierten liberalen Ordnung.“ Tatsächlich erhebt die EU im Durchschnitt höhere Zölle als die USA. Zahlreiche europäische Industrien werden so vor der Konkurrenz aus Amerika, China sowie – und das ist besonders perfide – aus Afrika geschützt. Zehn Prozent Zoll erhebt die EU auf amerikanische Autos; allein für Stahl- und Eisenprodukte gibt es in der EU 53 Anti-Dumpuing-Zölle.
Dass Trumps Stahlzölle dennoch mehr als ein kleiner Aufreger waren, sah man schon daran, dass Gary Cohn, der wichtigste Wirtschaftsberater der Trump-Regierung aus Protest zurücktrat. Der ehemalige Goldman-Sachs-Banker galt als einer der „Erwachsenen,“ die Trump nach Stephen Bannons Abgang doch noch bändigen würden. Er spielte auf einsamen Posten die Rolle des ideelen Gesamtkapitalisten im Weißen Haus. Doch die Stahlzölle und die aggressive Rhetorik, mit der Trump diese Maßnahmen begleitete, gingen ihm wohl endgültig zu weit.
Und dann wurde der gefürchtete Handelskrieg fürs erste doch noch abgeblasen. Fast alle Verbündeten der USA konnten Ausnahmen erwirken. Trump hatte nur drohen wollen – „Schöne Stahlwerke hast du da, wäre doch furchtbar schade, wenn denen was passieren würde“ – und ließ sich durch manchmal symbolische, manchmal handfeste Zugeständnisse beschwichtigen. China allerdings wollte Trump von den Zöllen nicht ausnehmen.
Es folgte eine weitere Salve gegen das Land, das laut Weißem Haus ein „wirtschaftlicher Feind“ und laut der offiziellen „nationalen Sicherheitsstrategie“ ein „strategischer Gegner“ der USA ist. Trump kündigte Strafzölle im Umfang von 50 Milliarden Dollar gegen chinesische Schlüsselindustrien an. Außerdem soll es Chinesen erschwert werden, in den USA zu investieren oder Visa zu erhalten. So wolle man sich gegen die „wirtschaftlichen Aggressionen“ des Konkurrenten wehren: Das Land klaue amerikanische Technologien, betreibe Industriespionage und verhalte sich auch sonst nicht eben fair. Auch diesmal brachen die Börsenkurse ein. 45 amerikanische Industrie- und Handelsverbände flehten Trump in einem offenen Brief an, seine Zollpolitik zu korrigieren, darunter Firmen wie Apple, Google, Nike und Walmart.
China reagierte (auf die vorausgegangenen Stahlzölle) mit Zöllen auf amerikanische Agrarprodukte und kündigte an, alle weiteren Zölle der USA hart zu vergelten. Anfang Mai sollen die neuen amerikanischen Zölle in Kraft treten; dann ist auch mit Gegenmaßnahmen Chinas zu rechnen. Es hat etwas von einem Westernduell. Der US-Handelsminister Wilbur Ross versuchte Anfang März, die Börsen auf charmante Weise zu beschwichtigen: „Sogar normale Kriege enden irgendwann mit Verhandlungen, nicht wahr?“
***
Auffällig ist, dass die Maßnahmen gegen China in den USA viel mehr Rückhalt fanden als die relativ ziellosen Stahl- und Aluminiumzölle. Sogar der demokratische Oppositionsführer Chuck Schumer zollte Trump Beifall. Der Aufstieg Chinas und der relative Abstieg der USA sind der eigentliche Grund des Konflikts. Das einstige Billiglohnland China schickt sich an, in zentralen Industriebranchen technologisch zum Westen aufzuschließen. Mit dem ambitionierten Entwicklungsprogramm „Made in China 2025“ will China in den nächsten Jahren eine mit japanischen und deutschen Standards vergleichbare Wirtschaft aufbauen. Der Fokus liegt auf der Informationstechnologie und der Robotik bei der industriellen Fertigung; explizites Vorbild ist Deutschlands Industrie 4.0. Trumps Zölle richten sich gegen diese Sektoren, die, im Unterschied zum Rest der chinesischen Wirtschaft, noch sehr auf den Export angewiesen sind: Autos, Flugzeuge, medizinische Geräte, Informationstechnologie, Robotik und Elektromobilität.
Dabei ist es durchaus zutreffend, dass der von Trump angedrohte Protektionismus in keinem Verhältnis zu den Maßnahmen steht, mit denen China große Teile seiner Wirtschaft schützt. Besonders stören sich die USA an den Joint-Venture-Regeln, die besagen, dass ausländische Unternehmen in China nur produzieren dürfen, wenn sie dabei mit chinesischen Firmen zusammenarbeiten. So können Technologien des Westens von der chinesischen Wirtschaft leicht übernommen werden. Es ist außerdem wahr, dass der chinesische Staat seine Unternehmen dabei unterstützt, strategisch wichtige Hochtechnologieunternehmen im Westen aufzukaufen. Und auch die Klagen über Industriespionage und mangelnden Patentschutz sind nicht unberechtigt.
Der Westen hat das alles bislang akzeptiert, weil er auf den Zugang zum chinesischen Markt angewiesen ist. Die chinesische Wirtschaft wächst immer noch enorm und wird wohl bald die mit Abstand größte der Welt sein. Bereits seit langem hatte der Westen den Nutzen des Zugangs zum chinesischen Markt gegen die Gefahr der wachsenden chinesischen Konkurrenz abwägen müssen. Der gegenwärtige Konflikt war nur eine Frage der Zeit. Schon im September letzten Jahres drohte die EU-Handelskammer: „Wenn China letztlich nicht bereit ist, gegenseitigen Zugang zu seinem eigenen Markt zu bieten, kann es nicht davon ausgehen, dass es für immer einen ungehinderten Zugang auf dem EU-Markt behält.“
Trotzdem bedeutet Trumps offensive Absage an das Prinzip einer globalen Freihandelsordnung einen historischen Bruch. Die Aufrechterhaltung einer globalen, von Freihandel geprägten kapitalistischen Ordnung war seit dem Zweiten Weltkrieg das erklärte Ziel der USA – und die Legitimation des amerikanischen Führungsanspruchs. Die USA herrschten nicht über die Welt, sondern verwalteten (und schützten) eine liberale Ordnung, an der jeder gleichermaßen teilhaben konnte – so die Erzählung. In diesem Sinne erlaubten, ja förderten sie auch den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der einstigen Feinde Japan und Deutschland. Die Krise des fordistischen Kapitalismus in den siebziger Jahren rührte auch daher, dass diese neuen Konkurrenten die USA zunehmend vom Weltmarkt drängten. Dennoch reagierten die USA auf die damals einsetzende Deindustrialisierung ihres Landes nicht mit einem Handelskrieg. Nach wie vor waren die USA die größte Volkswirtschaft der Welt, technologisch an der Weltspitze, im Besitz der globalen Leitwährung und politisch und militärisch unangefochtene Führungsmacht des Westens.
Nach der Weltwirtschaftskrise 2008 ff. stellt sich die Frage, ob der Staus quo ante wiederherzustellen ist, in dem die enormen Defizite der USA durch ihre Funktion als finanzielles Zentrum der globalen Kapitalverwertung kompensiert werden konnten – oder ob die relative Stärke der US-Wirtschaft inzwischen so erodiert ist, dass auch die globale Hegemonie bald verlorengeht. 2017 importierten die USA Waren im Wert von 2,251 Milliarden Euro, exportierten jedoch nur Waren im Wert von 1,455 Milliarden Dollar. Das ist ein Defizit von 800 Milliarden Dollar. Und das Handelsdefizit mit China war 2017 mit 375 Milliarden Dollar größer als je zuvor.
***
Ob jedoch Trumps protektionistisches Konzept daran etwas ändern kann, ist fraglich. Die amerikanische Industrie verliert zwar auf dem Weltmarkt in einigen Branchen seit langem am Boden, doch ohne Freihandel kann die US-Wirtschaft erst recht nicht bestehen. Das ist der Irrtum der Trumpschen Politik, der durch Unberechenbarkeit und Aggressivität kaschiert wird. Trump behauptet, die amerikanischen Handelsverträge seien von den „Globalisten“ zum Nachteil der USA eingerichtet worden. Das Gegenteil ist richtig: Von der wesentlich nach den Vorstellungen der USA geformten globalen Handelsordnung hat das Land erheblich profitiert.
Es gibt eben nicht für jedes Problem eine Lösung. Kein Protektionismus kann die partielle Deindustrialisierung Amerikas rückgängig machen – und der Aufstieg Chinas wird sich fortsetzen. Trump versucht Druck auf China auszuüben und betreibt ansonsten eine besonders aggressive Form der Standortpolitik – aber darüber kommt er nicht hinaus. Sein erklärtes Ziel bestand stets darin, „Amerika zum besten Ort auf der Welt zu machen, ein Unternehmen zu haben und eine Fabrik zu bauen.“ Die radikal gesenkte Unternehmenssteuer, ein gelockertes Arbeitsrecht, das Absenken der Umweltstandards und durchs Fracking gesunkene Energiepreise: All das liefert Anreize, in den USA zu investieren.
Aber die globale Handelsordnung kann auch Trump nicht grundlegend stauchen, ohne der amerikanischen Wirtschaft massiv zu schaden. Er kann allerdings den Status der USA als (noch) größten Absatzmarkt der Welt und als militärische Schutzmacht des Westens nutzen, um Konzessionen von seinen Verbündeten zu erpressen – und sie in ein gemeinsames Bündnis gegen China zu zwingen.
Die Stahl- und Aluminiumzölle passen zu dieser Strategie, wie man am Beispiel Deutschlands sehen kann. Die deutsche Wirtschaft ist enorm exportabhängig und auf den Zugang zum amerikanischen Markt angewiesen. Als sich Widerstand gegen die Stahlzölle regte, drohte Trump der deutschen Automobilindustrie mit Zöllen von bis zu 25 Prozen. Ende März lenkte die deutsche Regierung allem Anschein nach ein. Der neue Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier teilte dem „Spiegel“ im Interview mit, man werde bis zum Sommer mit den USA einen Kompromiss finden, mit „einer einheitlichen Linie im Kampf gegen Dumpingpreise und den Diebstahl geistigen Eigentums.“ Außerdem werde er, Altmaier, sich dafür einsetzen, dass Deutschland in Zukunft das Rüstungsziel der Nato von zwei Prozent des Bruttosozialprodukts erreiche – eine Forderung des US-Präsidenten.
So beschädigt Trump zwar die US-Hegemonie, die darauf basiert, dass sie als legitim und auch von den Verbündeten als gewinnbringend anerkannt wird, doch im Falle Europas ist das kaum dramatisch. Besonders Deutschland hat ein Interesse, den Status quo zu bewahren. Im transatlantischen Bündnis reisen die Deutschen gleich doppelt auf dem Ticket der USA – wirtschaftlich (durch die enormen Exportüberschüsse, mit denen sich Deutschland durch die Krise rettete) und militärisch. Bis heute verlässt sich Europa auf den militärischen Schutzschirm Amerikas – ein enormes Druckmittel für jeden US-Präsidenten, der bereit ist, es zu nutzen.
Auch deshalb unternahm die EU nach Trumps Wahlsieg große Anstrengungen, um unter der Losung der „strategischen Autonomie“ einen eigenständigen militärisch-industriellen Komplex aufzubauen. Durch das Koordinationsprogramm Pesco soll die europäische Rüstungsindustrie zentralisiert, rationalisiert und ausgebaut werden, bis sie mit den USA mithalten kann. Noch im Februar, kurz bevor die Stahlzölle in Kraft traten, beschwerte sich die US-Regierung über diesen „Rüstungsprotektionismus“ der EU.
Das deutsche Europa scheint derzeit noch nicht aus dem transatlantischen Bündnis auszuscheren, wenngleich China für Deutschland inzwischen als Absatzmarkt wichtiger ist als die USA. Deutschland steckt in der Zwickmühle: Es ist zwingend auf beide, den chinesischen und den amerikanischen Markt, angewiesen. Doch Chinas technologische Aufholjagd bedroht die wirtschaftliche Stellung Deutschlands stärker noch als die der USA. Die deutsche Wirtschaft basiert zu einem großen Teil auf dem Export in genau jenen Branchen, in denen China mit dem „Made in China 2025“-Programm gleichziehen will. Auch Deutschland fürchtet deshalb den „Technologietransfer.“ Noch dieses Jahr soll auf EU-Ebene ein Gesetz verabschiedet werden, um zu verhindern, dass ausländische Investoren Zugriff auf kritische Infrastrukturen und sensible Technologie erhalten. Dabei geht es unter anderem um künstliche Intelligenz, Halbleiter und Robotik.
Auch geopolitisch erscheint China aus deutscher Sicht immer bedrohlicher. In der sogenannten 16+1 Gruppe kooperiert China mit 16 europäischen Ländern (davon elf EU-Mitglieder), in denen es Infrastrukturprojekte zum Aufbau eines Netzes von Handelsrouten („One Belt One Road“-Initiative) finanziert. Besonders Griechenland und Ungarn profitieren davon enorm. Bereits 2017 warnte der damalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, China wolle „Europa spalten.“ Der deutsche China-Think-Tank Mercator warnte deshalb im Februar in einer Studie davor, dass „Chinas rasch zunehmende Versuche der politischen Einflussnahme in Europa und Chinas selbstbewusstes Werben für seine autoritären Ideale eine bedeutende Herausforderung für die liberale Demokratie und für Europas Werte und Interessen darstellen.“
Das ist der Sound einer neuen Blockkonfrontation. Wenn der Westen anfängt, auf diese Art von Idealen und Werten zu sprechen, wird es ernst.