Weinerliche Konservative

In der konservativen Neuen Zürcher Zeitung (laut Alexander Gauland das „Westfernsehen“ der BRD-Merkeldiktatur) ist kürzlich der zehntausendste Artikel erschienen, der sich über die Intoleranz und hypermoralische Arroganz des linksliberalen Establishments beklagt. „Wer für abweichende Haltungen nur Schweigen übrig hat, verrät das Erbe der Aufklärung“ lautet der etwas unhandliche Titel, der Autor heißt Thomas Ribi.

Wie es für dieses Genre typisch ist, muss man sich durch jede Menge inhaltsleeres Ressentiment wühlen, bis man auf etwas stößt, das irgendwie als Argument durchgehen könnte. Man gebe sich diesen Absatz, als Beispiel:

„Die Toleranz endet, wo jemand die Unverschämtheit besitzt, eine andere Meinung zu haben. Was irritiert, provoziert und die eigenen Denkgewohnheiten herausfordert, wird nicht energisch bekämpft, sondern ganz leidenschaftslos von der Diskussion ausgeschlossen. Selbstverständlich nicht, ohne dass man vorher ein passendes Etikett aufkleben würde. Schliesslich will man wissen, in welche Schmuddelecke man die Geister bannt, die den häuslichen Frieden stören: neoliberal, populistisch oder reaktionär.“

(Diese Leute können sich nie ganz entscheiden, ob abweichende Meinungen nun mit „hysterischem“ hypermoralischem Geheul niedergeschrien, oder leidenschaftslos totgeschwiegen werden…)

In diesem Fall nennt der Text drei Personen, die in Zürich sprechen sollten, deren Auftritt dann aber durch die linke Meinungsdiktatur verhindert wurde (also known as: irgendwelche Linken kündigten einen Gegenprotest an, und die Universität hatte keine Lust auf die Mühen und sagte die Veranstaltung lieber ab): zuerst die Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, dann der ehemalige US-General David Patraeus und schließlich der „Hausphilosoph“ der AfD Marc Jongen.

Hier erkennt man die grundlegende optische Täuschung, auf denen Artikel dieser Art  basieren – und man sieht auch, warum gerade Universitäten für diese Rechten Rebellen gegen die linke Meinungsvorherrschaft so wichtig sind: weil sie eine der ganz wenigen Orte in unserer Gesellschaft sind, an denen die Behauptung, es gebe eine Tyrannei der links-liberalen Hypermoral, sich nicht sofort als völlig absurd entlarvt. Diese Menschen sind werden nämlich überhaupt nicht „von der Debatte ausgeschlossen.“ Speziell Christine Lagarde, aber auch David Patraeus werden pausenlos an prominentester Stelle um ihre Meinung gebeten; auch Jongen wurde lang und breit in verschiedensten Medien interviewt.

Überhaupt: gibt es irgendetwas in unserer Welt was dominanter, mächtiger und unangefochtener ist, als das, was Christine Lagarde bzw. der IWF repräsentiert – nämlich die ökonomische Rationalität des Kapitalismus? Haben linke, moralische Einwände – gegen die drakonischen Sparprogramme in Griechenland etwa – auch nur den Hauch einer Chance gegen die Autorität des IWF?
(Das einzige, gegen das sich der IWF nicht durchsetzen konnte, war ironischerweise der politische Wille der deutschen Regierung. Der IWF forderte nämlich – aus Gründen der ökonomischen Rationalität – einen partiellen Schuldenerlass für Griechenland; Deutschland lehnte das ab – und setzte sich durch.)

Auch David Patraeus war zwar als Oberbefehlshaber im Irak für Abu-Graib verantwortlich, wurde aber trotzdem 2011 vom liberalen Obama zum CIA-Chef ernannt. Zurücktreten musste er schließlich, weil eine außereheliche Affäre mit einer Journalistin hatte, an die er geheime Informationen weitergab – ein Vergehen, das, im Gegensatz zur Folter, sehr ernst genommen wird. Guantanamo, Drohnenkrieg, Folter: all diese Dinge hatten sicher nie die „hypermoralische“ öffentliche Meinung auf ihrer Seite. Aber bewirkt hat das nichts; es gab sie, es gibt sie, es wird sie weiter geben.

Und Marc Jongen schließlich: die Frage, ob man mit diesen Menschen nun reden soll oder nicht, wurde ja lang und breit diskutiert – während man ständig genau das tat, nämlich Menschen wie Alexander Gauland ins öffentlich-rechtliche Fernsehen einzuladen – „Vogelschiss“ und „Stolz auf die Leistungen der deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen“ hin oder her.

Was für eine Rolle spielt es also, wenn diese Menschen bei einigen wenigen Gelegenheiten auf Widerspruch von irgendwelchen unbedeutenden linken Kleingruppen stoßen, die so machtlos und irrelevant sind, das man nicht einmal ihre Namen kennt? Was sich hier als Aufforderung zum offenen, rationalen Diskurs geriert, verbirgt in Wirklichkeit den autoritären Wunsch, jeglichen Widerspruch zum Schweigen zu bringen.

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