Und ich stehe mitten unter ihnen (Wetter – Magazin für Text und Musik)

Kurzgeschichte, erschienen in Wetter – Magazin für Text und Musik

Ich kenn dich nicht und du kennst mich nicht. Du interessierst dich nicht für meine Probleme und ich mich nicht für deine.

Das klingt schon mal richtig als Anfang für meine Geschichte, aber wahrscheinlich ist es nicht wahr. Die Wahrheit ist, ich habe viel Freizeit und fast alles ist für mich interessant. Viel Freizeit. Zuviel.

Außerdem habe ich eine Art Verkaufsargument für meine Probleme: ich habe in den letzten Monaten über 200 Autos angezündet, wahrscheinlich noch viel mehr. Klingt das interessant?

Bis heute wundere ich mich darüber, dass ich damit angefangen habe. Nicht weil es so „radikal“ war, sondern weil es irgendetwas war. Ihr würdet vielleicht nie auf die Idee kommen „so etwas“ zu tun, doch ich war damals von jeder Tat gleich weit entfernt – ein Auto anzünden oder meine Mutter anrufen, ganz egal.

Wie dem auch sei, irgendwie hatte ich erfahren, wie es geht. Ihr wisst es bestimmt auch: Leg einen benzingetränkten Lappen auf einen Reifen und darauf eine brennende Zigarette. 10 Minuten später ist es soweit. Eines Nachts, als ich (wie jede Nacht) allein durch die Stadt lief, hatte ich dann plötzlich eine Plastiktüte dabei, in dem sich ein paar Lappen und ein kleiner Behälter Benzin befand. Ich erinnerte mich nicht, sie gekauft zu haben, war aber auch nicht überrascht. Dann tat ich es einfach. Ich hatte nicht mit mir gerungen, ich musste mich nicht überreden. Es war eine einfache Entscheidung und es fühlte sich sofort gut an, sie gefällt zu haben. Trotzdem hatte ich Angst. Ich ging nicht zurück, um mir das brennende Auto anzuschauen, sondern lief eine halbe Stunde herum und ging dann nach Hause. Den Rest der Nacht konnte ich nicht schlafen. Am Morgen aber war da ein leises, angenehmes Summen in meinem Kopf und ich wartete darauf, dass es wieder dunkel werden würde.

Ich begann es jede Nacht zu machen. Aus meinem bisherigen ziellosen Herumlaufen wurden planvolle Erkundungen. Ich ließ mir Zeit, um zu entscheiden, welches Auto es sein würde; ich gab der Debatte in meinem Kopf Raum, erörterte das Für und Wider verschiedener Straßen und Automarken. Wenn es vorbei war, lief ich schnell nach Hause. Ich würde schlafen können.

Eines Nachts übertrieb ich es und zündete in einer Straße fünf Autos gleichzeitig an. Diesmal las ich endlich von mir in der Zeitung. Doch ich wusste, ich war zu weit gegangen. Immer noch hatte ich Angst. Aber ich hatte diese Straße gehasst.

In den folgenden Wochen versuchte ich, es nicht zu oft zu machen. Jede Nacht – das war zu gefährlich. Auch musste ich darauf achten, es gleichmäßig verteilt in der ganzen Stadt zu tun und nicht immer an der selben Tankstelle das Benzin abzufüllen. Diese Überlegungen beschäftigten mich auch tagsüber ein wenig.

(Euch, die ihr zumindest potenziell auf der anderen Seite dieser Sache steht, interessiert vielleicht, wie ich meine Auswahl treffe: Nein, es gibt keinen Schutz und, ja, es sind vor allem teure Autos.)

Gab es mir ein Gefühl der Macht? Sublimierte ich mein eigenes Gefühl der Bedeutungslosigkeit? Spart euch die Psychoanalyse. All das liegt so sehr auf der Hand… Die Wahrheit ist aber auch, dass ich eigentlich fast gar nichts fühlte. Ich war immer noch gesichtslos, namenslos. Was hätte denn passieren sollen? Wenn du seelische Abgründe oder dämonische innere Kämpfe erwartest hast, hast du mehr Vertrauen in mich, als ich selbst. Ich bin nicht aus Dostojewski, ich bin kein Protagonist. Ich habe keine Illusionen mehr.

In Geschichten liest man oft Sätze wie „Es fing an als …“, oder „Ich stieg gerade aus der U-Bahn, als mir klar wurde …“, aber in der Wirklichkeit gibt es solche Momente natürlich nicht. Um ehrlich zu sein: in dem Zustand in dem ich mich seit einiger Zeit befinde, habe ich einige Probleme so etwas wie einen „Moment“ überhaupt wahrzunehmen. Alles unter zwei Stunden ist seltsam verschwommen. Irgendwann aber, im Laufe eines langen Nachmittags, den ich damit verbrachte die Wand vor meinem Sofa anzustarren, hatte sich eine Situation aus dem Grau geschält, an die ich mich genau errinerte, fast so als hätte ich sie wirklich erlebt. Ich war, umgeben von Menschen, im Begriff gewesen die Treppe der U-Bahnstation hinabzugehen, als es passierte – die Epiphanie. Ich sah die Menschen um mich herum und stellte zum ersten Mal in meinem Leben fest, dass sie genauso waren wie ich. Sie waren nicht einfach nur Teil der Welt, in der ich mich bewegte. Tatsächlich war für sie Ich Teil der Welt, in der sie sich bewegten. Die junge Frau, die vor der Station stand und auf jemanden wartete: ihr war gleichgültig was ich von ihren Beinen hielt (oder ihrer Jacke). Genauso wie ich, glaubte sie, das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. In ihrem Kopf war sie die Person, für die diese U-Bahn Station jedes mal wieder eilig in Betrieb genommen wird, wenn sie sich entscheidet, dort mal wieder vorbeizuschauen.

Das Zentrum der Aufmerksamkeit – wessen Aufmerksamkeit? Nun, wenn wir ehrlich sein wollen, liegt dieses X, das die Welt betrachtet und uns in ihr Zentrum setzt, irgendwo in unserem eigenen Kopf. Auch ich hatte so etwas besessen, die rätselhafte Fähigkeit, sich selbst als den Protagonisten dieser Welt zu betrachten – bis zu diesem Moment.

Ironischerweise ist es dieses X, das man braucht um „Momente“ und „Epiphanien“ (ha!) zu haben. Also war das eine Lüge, es ist nicht so passiert. Es war nur ich, allein, auf dem Sofa. Vor mir die Wand, die mit mir kommunizierte. Es war eine einfache Botschaft und doch brauchte es Stunden, bis ich sie ganz empfangen hatte, denn ich musste sie minutiös in der Tapete entziffern, aus jedem Riss und jedem Flecken. D u e x i s t i e r s t n i c h t .

Einer Wand solltest du lieber nicht wiedersprechen. Ich hab es versucht und mir dabei die Hand gebrochen. Akzeptiere, dass die Wand recht hat. Es mag nicht alles stimmen, was die Wand dir sagt, aber das meine ich auch nicht, wenn ich sage „sie hat recht“. Der Wand ist egal, was stimmt oder nicht stimmt. Die Lehre der Wand ist einfach und ihr könnte nicht gleichgültiger sein, was du davon hältst: Sie haben das Recht, deine Bewerbungen nicht zu beantworten. Sie haben das Recht, deine Bezüge zu kürzen. Sie haben das Recht, dich mit freundlichem Lächeln zu verabschieden. Sie haben alles Recht der Welt.

Ich stelle mir oft den Moment meiner Verhaftung vor. Am meisten gefällt mir die Variante, in der es hier zu Hause passiert. Ich tue gerade etwas, wofür ich mich nicht schämen muss, rauche vielleicht ruhig eine Zigarette am Küchentisch, als es plötzlich an die Tür klopft. Es wird keinen Wiederstand geben. Sie müssen die Tür nicht aufbrechen. Ich mache auf, mit einem würdevollem Gesichtsausdruck, den ich schon heute vorm Spiegel übe. Dann geht es in Handschellen die Treppe runter – die Kamera leicht erhöht direkt hinter meinen Schultern, der Weg gesäumt von Polizisten. Draußen stehen die Menschen hinter der Absperrung und alle schauen mich an und reden, über mich. Das hätte man ihm nie zugetraut…

In Handschellen werde ich aus dem grauen Licht ins Helle geführt. Was wird dann passieren? Hochbezahlte Beamte werden versuchen, meine Motive zu ergründen. Ein misanthropischer, verwitweter Polizei-Psychologe wird in die Tiefen meines Wesens schauen. Gegen seinen Willen ist er fasziniert und langsam entsteht eine Freundschaft. Etc…

(Die Interviews, die ich der Presse geben werde, sind eine seperate Sache; endlos werden sie in meinem Kopf abgespielt, wenn ich im Supermarkt bin, durch die Stadt laufe… )

In Wirklichkeit handelt es sich um Sachschaden. Vielleicht muss ich nicht mal ins Gefängnis. Ich bin schon beim Amt gemeldet, vielleicht kann man einfach etwas zu meiner Akte hinzufügen. Die Summe aufaddieren, meine Bezüge entsprechend kürzen. Du gehst zu dem Amt und dann zu einem anderem. Du füllst dieses Formular aus und dann jenes. Diese Scheiße hört niemals auf.

Meine Motive… Ich würde jetzt gerne kurz erzählen, wie mein Leben ist, aber wie erzählt man von einer Zeit, in der nichts passiert? Du denkst vielleicht, das wäre nicht möglich, dass nichts passiert, aber glaub mir, es ist möglich.

Nichts. Monate.

Oder vielleicht bist du jemand wie ich? Kennst du selbst all die Strategien gegen die „Müdigkeit“, die unzähligen Tassen Kaffe…? Den Chor der optimistischen Stimmen in deinem Kopf, die du irgendwann zum schweigen bringen musst? Kennst du das Gefühl, deinen Wecker auf 11 Uhr morgens zu stellen und dann um 4 Uhr nachmittags aufzuwachen?

Wahrscheinlich nicht. Dann weiß ich, was du gerade denkst. Ich weiß, was für Symptome ich da aufzähle. Ich weiß, was ich bin. Aber es fühlt sich nicht an wie ein medizinisches Problem.

Wenn ich sage, dass ich irgendwelche Gesichtsausdrücke im Spiegel übe, dann ist das eine Lüge. Ich habe mich schon lange nicht mehr im Spiegel angesehen.

Es hat fast zwei Wochen gedauert, bis ich mich das erste mal getraut habe zurückzukehren. Ich ging einen großen Bogen, schmiss das restliche Benzin weg, wusch mir in einer Bar die Hände und ging dann über einen weiteren großen Umweg zurück. Es waren etwa 20 Minuten vergangen. Schon von weitem meinte ich es zu spüren. Mein Magen zog sich zusammen. Die Geräusche der Nacht veränderten sich, es wurde stiller. Dann war da nur noch das Rauschen in meinen Ohren. Ich hörte das Blut in meinem Schädel knallen. Ich sah den goldenen Schimmer am Ende der Straße. Mein rechter Arm zuckte als plötzlich meine Haut begann zu brennen. Ich erinnere mich genau…

Ich bin froh, so etwas einmal gesehen zu haben. Es ist wunderschön. An einem Ort, an dem du es nie für möglich gehalten hättest, brennt das Licht. Es ist so hell, viel heller als du gedacht hättest, aber trotzdem warm und freundlich. Und die Menschen stehen um das Feuer herum. Sie sind ganz still. Ruhig, ohne ein Wort zu sagen, schauen sie in die Flammen. Und ich stehe mitten unter ihnen.

 

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